April 2019
Strecke:
Rheinabwärts von Rheinau bis Duisburg. Rhein-Herne-Kanal bis Herne. Dortmund-Ems-Kanal bis Bergeshövede. Mittellandkanal bis Calberlah. Elbe-Seitenkanal bis Lauenburg. Elbe-Lübeck-Kanal bis Lübeck.
Aufbruch
Bei kalten 10°C, bewölktem Himmel und strammem Nordwind gegen uns legen wir ab. Unauffällig. Routinemäßig. Nichts deutet darauf hin, dass wir, nach über drei Jahren, die wir jetzt schon in dieser Werft liegen, aufbrechen. Die große Fahrt beginnt!“
Soweit der Eintrag in unser Logbuch.
Auf dem Steg steht nur Peter. Er winkt nochmals kurz. Wer will auch an einem kalten Aprilmorgen um sieben Uhr am Steg stehen? Unser 52 PS starker Diesel tuckert gleichmäßig, zusammen mit den blaugrauen Abgasen spuckt der Auspuff reichlich Kühlwasser aus; wir holen die Leinen ein und fahren langsam rückwärts aus der Box. Ein Bootsnachbar bemerkt unseren Aufbruch. Verschlafen kommt er an Deck seines Schiffes. Vielleicht war es aber auch nur die volle Blase, die ihn geweckt hat. Auch er winkt. Bis er seiner Frau unter Deck Bescheid geben kann, sind wir schon aus dem kleinen Hafenbecken gefahren.
Über zehn Jahre hatte unsere Colette hier ihren Heimathafen. Sieben Jahre unter unseren Vorgängern und nun seit drei Jahren in unserem Besitz. Es war ein guter Hafen, eine gute Werft. Wir fühlten uns stets umsorgt. Behütet. Immer waren helfende Hände zur Stelle, wenn Hilfe nötig war. Helfende Hände und gute Ratschläge. Eben eine gute Werft mit guten Leuten. Hier gab es kein aufgesetztes Getue, kein Blinken und Blenden, Polieren und Protzen. Eine ehrliche Werft, beherrscht vom Geruch nach Stahl, Farben, Lacken, altem Holz und Diesel, beherrscht vom Zischen der Schweißbrenner, vom Jaulen der Flex- und Schleifmaschinen, von den lauten Hammerschlägen auf Nieten. Und so manches Mal wurde dieses laute Konzert der Werftarbeit noch übertönt von dröhnender Heavy-Metall- oder Technomusik aus einem der halbfertigen Bootskörper, passend zum Hämmern und Schweißen und so laut eben, dass es auch noch mit getragenem Gehörschutz gehört werden konnte. All der Lärm verstummte beim schrillen Ruf der Sirene, die den Werftarbeitern die Pausen und den Feierabend vorgab.
Eine solche Werft ist ganz sicher keine edle Marina in Weiß und Blau und auch kein Ort für eine romantisierende Männerwelt. Der Diesel stinkt, die Farben sind giftig, Maschinen gefährlich, das Hafenwasser ist verdreckt. Die Sprache der Werftarbeiter ist derb, gespickt mit bösen Sprüchen und heftigen Flüchen. Aber hier haben wir uns wohl gefühlt und unsere Bootsheimat gehabt. Hier konnten wir in den letzten drei Jahren selber flexen, schleifen und streichen, basteln und bauen und des Öfteren auch fluchen, wenn die Arbeit an unserer Colette nicht so gelang, wie wir es uns wünschten. Dann gab es wieder helfende Hände, Tipps und Tricks der Fachleute, der Profis, die sich über unser Unvermögen nie lustig machten.
Heute haben wir die Leinen losgemacht, um unserer Werft für lange Zeit, vielleicht für immer, Adieu zu sagen.
Vielleicht ist es der kalte Nordwind, vielleicht sind es auch meine Gedanken, die meine Augen tränen lassen: Aufbruch – Leinen los – heißt auch immer Abschied!
„Gambsheim Schleuse, Gambsheim Schleuse, hier Segelyacht Colette. Wie befinden uns im Oberwasser der Schleuse und möchten zu Tal fahren.“
„Hier Gambsheim Schleuse. Bonjour, wir sähe euch. Wo wollt ihr hin so früh im Jahr?“, kommt im freundlichen elsässisch-deutsch aus dem Lautsprecher des Funkgeräts zurück.
„In die Ostsee.“
„Ja wenn’s sei muss. Dann kommet mol rei und setzt euch steuerbords hinter d‘große Frachter.“
Wir tun wie uns gesagt wird. Mittlerweile haben wir ja beim Schleusen Routine, schließlich mussten wir auf der „Sauerkraut-Tour“ vor zwei Jahren 87 Schleusen bewältigen. Aber zum ersten Mal schleusen wir mit einem auf Deck und Cockpitdach festgezurrten Mast und einem voll bepackten Schiff mit Proviant, Kleidern, Diesel, Ersatzteilen und vielem mehr. Das Anlegen an der Schleusenmauer bedarf etwas mehr Vorsicht als sonst, da der Mast sowohl am Bug als auch am Heck weit über einen Meter über das Schiff hinausragt und der Mast mit den zusammengebundenen Stagen und Wanten deutlich die Sicht erschwert.
Wir warten, bis der große Rheinfrachter vor uns aus der Schleusenkammer ausgefahren ist, um nicht von den Wellen seiner Schrauben an die Schleusenmauer gedrückt zu werden. Beim Passieren des unteren Schleusentores knackt es kurz in der Funke und der freundliche elsässische Schleusenwärter ruft uns zu:
„Bon voyage und ä Gruß an‘d Ostsee!“
Schleuse Iffezheim, Fähren Plittersdorf und Neuburgweier, Karlsruhe, Hafen Germersheim, Kernkraftwerk Philippsburg und schließlich Speyer. Nach 92 km und achteinhalb kalten Stunden legen wir im kleinen, freundlichen Yachthafen von Speyer an.
Es ist Samstagabend. Morgen beginnt die Karwoche. Entsprechend gerüstet ist der Dom, den wir spätabendlich besuchen. Heute sind die Katakomben unter dem Dom geöffnet und eine lange Reihe hintereinander aufgestellter Kerzen führt Besucher vom Domplatz aus dort hinunter. Zwischen den Gräbern von Bischöfen und anderen geistlichen Würdenträgern laden im Schein von Fackeln und Kerzen zumeist Jugendliche und junge Erwachsene in kleinen Gruppen zu Gesprächen über Leben, Tod und den Sinn des Lebens ein. Wie passend, denke ich für einen Moment, kann dann aber nicht lange bleiben. Mich treibt es wieder nach oben, an die frische Luft, zum Leben. Gedankenversunken schlendern wir durch die menschenleere, kalte und zugige Fußgängerzone. Es ist kein Wetter zum Ausgehen.
Mannheim und Ludwigshafen riechen wir, bevor wir die Industriemetropolen sehen können. Der Nordwind treibt uns den Geruch von Rauch, Kohle, Eisen und was sonst noch entgegen. Das Industrie-Wirrwarr, das wir im vorletzten Sommer bewundert hatten, gibt sich heute im tristen, abweisenden Grau und der Rost an den Förderbändern, Kränen, Rohren und Leitungen erscheint uns heute übermächtig.
Wir fahren weiter bis Wiesbaden.
Im Mittelrhein
In dem schnell fließenden und engen Fahrwasser zwischen Bingen und St. Goar herrschte in den Sommertagen vor zwei Jahren Hochbetrieb. Jetzt im April ist es etwas entspannter. Die meisten Ausflugsschiffe nehmen erst nach Ostern ihren Betrieb auf und so sind deutlich weniger Schiffe unterwegs. Allerdings hat der Rhein in diesem Frühjahr aufgrund der spärlichen Herbst- und Winterniederschläge einen historisch tiefen Pegelstand für den Monat April. Die Untiefen beginnen schon gleich neben der Fahrrinne und lassen so kaum Spielraum zum Ausweichen. Wir malen uns ein großes Schild mit „T: 2 m“ und hängen es gut sichtbar in den Bug. Zwei Meter Tiefgang ist mehr als viele Rheinschiffe haben.
Jetzt beginnt wieder der abenteuerlichste Teil dieser Etappe. Von Lorch vorbei an Oberwesel unter dem Felsen der Loreley hindurch nach St. Goar. Der schnell fließende Strom und die vielen Signalanlagen an den Ufern fordern, wie schon vor zwei Jahren, unsere volle Aufmerksamkeit. Mit 18 Stundenkilometern jagt uns der Fluss durch seine Stromschnellen unterhalb des Loreley-Felsens. Im Nu sind wir am rechtsrheinisch liegenden St. Goarshausen vorbei und hätten fast die Einfahrt zum Hafen St. Goar verpasst. Der liegt linksrheinisch. Das heißt, wir müssen den schnellen Strom einmal queren und dabei achtgeben, dass wir gut zwischen den Frachtern durchkommen, die hier keinen Spielraum zum Ausweichen haben.
Wir legen in der netten, kleinen Marina in St. Goar an. Obwohl das Osterwochenende vor uns liegt, ist kaum Betrieb. Gut für uns. Wir tanken knapp 300 Liter Diesel und füllen das Trinkwasser auf. Schließlich müssen wir bis Lübeck noch ca. 700 Kilometer motoren und sicherlich werden wir unterwegs keine wesentlich günstigere Tankstelle finden.
Da wir über Nacht bleiben wollen, haben wir noch Zeit für weitere technische Inspektionen: Ölstand, diverse Filter, Impeller – alles ist bestens. Ich entschließe mich noch, das Unterwasserschiff anzuschauen. Mit etwas Mühe zwänge ich mich in meinen engen Neoprenanzug und lasse mich zwischen Schiffswand und Steg langsam ins Wasser gleiten. Puh, wir kalt der Rhein noch ist. Und wie unangenehm, wenn das 10° Grad kalte Wasser langsam durch den Neopren sickert. Dann dauert es zwei Minuten, bis der Körper das Wasser soweit erwärmt hat, dass es erträglich wird. So, jetzt noch den Kopf unters kalte Wasser bringen und das Tauchen kann losgehen. Trotz Taucherbrille und Taucherlampe sehe ich nicht allzu viel im trüben Rheinwasser. Aber genug, um Ruderblatt, Schraube und Bordventile zu überprüfen. Der Rumpf unserer Colette hat in den letzten zwei Jahren kaum Bewuchs angesetzt. Alle Borddurchlässe sind frei, das Ruder ist leicht beweglich und auch die Schraube macht einen guten Eindruck. Trotz des Neoprenanzugs möchte ich nach wenigen Minuten wieder schnell aus dem kalten, trüben Rheinwasser. Friederike drückt mir für die heiße Dusche eine Ein-Euro-Münze in die Hand und ich verschwinde im Neopren im nahen Waschhaus. Der Dusch-Automat funktioniert, sofort kommt heißes Wasser. Hervorragend! Allerdings brauche ich zum Ausziehen des Neoprens viel zu lang. Und als ich gerade gut eingeschäumt unter der Dusche stehe, stoppt das warme Wasser. Der Klassiker. Notgedrungen beende ich das Duschen kalt…
Wir haben St.Goar erst wenige Minuten hinter uns, als es plötzlich aus dem Motorraum qualmt und fürchterlich nach brennender oder schmorender Elektrik stinkt. Lukas und ich stürzen nach unten. Das Ladestromsteuergerät ist verkohlt und qualmt noch. Es brennt zum Glück nichts oder nicht mehr. Die Sicherung für das Ladegerät ist durch, alles andere scheint aber normal zu funktionieren. Vorsichtshalber nehmen wir das Gas weg. Im Leerlauf machen wir trotzdem vier, fast fünf knoten Fahrt flußabwärts. Der Rhein hat hinter St. Goar immer noch eine gute Strömung. Wir suchen weiter nach dem Fehler. Was kann passiert sein? Der Voltmeter der Lichtmaschine zeigt es: 16 Volt! Die Lichtmaschine erzeugt viel zu viel Strom. Das kann in Kürze unsere Batterien ruinieren. Die Anzeige der Starterbatterie ist schon weit im roten Bereich. Beherzt machen wir das Batteriefach auf und ziehen die Kabel von den Polen der Starterbatterie. Sofort stirbt der Motor ab. Verdammt. Auf der Colette ist die Motorabschaltung so geregelt, dass der Motor ausgeht, wenn die Zündung keinen Strom mehr hat. Manövrierunfähig treiben wir im Rhein. Nur für wenige Augenblicke. Lukas schaltet die Bordbatterien auf Zündung und unser Diesel springt wieder an. Allerdings lädt die Lichtmaschine nach wie vor viel zu hoch. Auch die Anzeige bei den Bordbatterien bewegt sich nun in den roten Bereich. Schnell schalten wir alle möglichen Stromverbraucher auf der Colette an, um möglichst viel Strom abzuführen. Die Voltanzeige bleibt bei 14,5 V. Geradeso erträglich.
Jetzt was tun? Wir überlegen, ob wir vorsichtig Richtung Ufer fahren und außerhalb des Fahrwassers Anker werfen sollen. Oder besser weiterfahren und bei der nächsten Marina anlegen? Oder umkehren und wieder in St. Goar anlegen? Wir entschließen uns für die letzte Möglichkeit. In St. Goar wissen wir, wo und wie wir anlegen können, der Hafenmeister war sehr nett und falls wir technische Unterstützung brauchen sollten, könnte er uns sicherlich weiterhelfen.
Der schnelle Rhein lässt uns nur langsam flussaufwärts kommen, da unser 52 PS-Motor kaum gegen die Strömung ankommt. Uns bleibt genügend Zeit, mit Peter zu telefonieren. Peter weiß bei allen technischen Problemen Rat.
„Da ist ganz sicher der Regler der Lichtmaschine futsch. Wenn der Ladestrom unter 14,5 V bleibt, dann sollten das die Batterien aushalten können.“
„O.k.. Hm?, Wir haben gerade 14,5 V.“
„Ja, gut. Dann solltet ihr so schnell wie möglich die Lichtmaschine wechseln.“
„“Äh, ja.“
„Und natürlich dann den durchgeschmorten Laderegler überbrücken.“
„Ja, wie…?“
„Und alle Sicherungen checken. Ihr habt ja eine Ersatzlichtmaschine dabei oder?“
„Ja, schon, aber…“
„Jetzt fahrt erst mal zurück in den Hafen. Dann meldet euch wieder. Wird schon alles klappen!“
Es klappt alles. Wir machen wieder an unserem gestrigen Liegeplatz fest. Der Hafenmeister hat großes Verständnis und gibt uns gleich die Telefonnummer eines Bootstechnikers, falls wir Hilfe brauchen sollten. Brauchen wir aber zum Glück nicht. Wir haben ja Peter! Lukas klettert in den Motorraum, ich reiche ihm das passende Werkzeug und habe immer wieder Peter am Ohr, wenn wir uns unsicher werden oder nicht mehr weiterwissen. Nach etwas mehr als einer Stunde ist alles erledigt: neue Lichtmaschine eingebaut, Keilriemen genau richtig gespannt, Laderegler überbrückt und alle kaputten Sicherungen gewechselt. Peter ist mit uns sehr zufrieden, wir sind es auch.
Rheinkilometer 592: Deutsches Eck. Vor zwei Jahren sind wir hier nach links auf die Mosel abgebogen. Heute geht es auf dem Rhein weiter. Von unserem Heimathafen bei Straßburg bis zum Deutschen Eck haben wir bereits 430 km zurückgelegt. Bis Lübeck liegen noch weitere 500 Kilometer vor uns. Endlich begleitet uns die Sonne. War es vor wenigen Tagen noch fast winterlich kalt und trüb, so klettert das Thermometer jetzt auf über 25 Grad und über die Osterfeiertage soll es die 30 Grad-Marke knacken. Vom Winter nahtlos in den Sommer. Den Frühling scheinen wir dieses Jahr zu überspringen.
Wir passieren Koblenz – Andernach – Remagen – Bonn – Köln – Düsseldorf, überall könnten wir wenigstens für einige Stunden oder besser noch für einige Tage bleiben, um Städte, Museen, Kirchen oder interessante Ausstellungen zu bestaunen. Aber die kurzen drei Wochen Osterurlaub, die uns für die Fahrt nach Lübeck zur Verfügung stehen, lassen es leider nicht zu.
Wir bleiben über Nacht in Düsseldorf, und der erste warme Frühlingsabend lädt uns zu einem österlichen Abendbummel ein. Nicht nur uns. Die Altstadt platzt fast aus allen Nähten. Jung und Alt drängt sich durch die engen Gassen: Wir lassen uns mit der Menge treiben und ergattern glücklich in einem Straßenrestaurant einen Tisch für vier Personen. Zum Düsseldorfer Alt gibt es italienische Spezialitäten. Italiener, Griechen, Türken, Spanier und viele andere Nationalitäten gehören wie selbstverständlich zum Düsseldorfer Stadtbild. Wie fühlen uns sehr wohl hier.
Es ist fast Mitternacht. Trotzdem besteht noch die Möglichkeit, den imposanten Düsseldorfer Fernsehturm zu besichtigen. Wir fahren mit dem Aufzug bis zur Aussichtsplattform. Düsseldorf bei Nacht. Was für ein großartiger Rundumblick über ein nicht enden wollendes Lichtermeer. Es hat aber auch etwas beängstigendes. Was für ein Verbrauch an Fläche und Energie. Wohin soll das noch führen?
Zwischen all den vielen flimmernden Lichtpunkten der Häuser und Hochhäuser, den Straßenlaternen und Straßen mit weiß-gelben und roten Lichterketten der fahrenden Autos, den bunt aufleuchtenden Reklametafeln und angeleuchteten Sehenswürdigkeiten, schiebt sich das dunkle Band des Rheins. Die Positionslichter von zwei Frachtern sind zu erkennen. Und dort müsste der Yachthafen sein, an dessen Steg wir festgemacht haben. Gar nicht weit weg vom Fernsehturm. Ist das nicht unsere Colette? Es ist ein gutes Gefühl, dort unten die „eigenen vier Wände“ zu wissen, mit denen man morgen diesen Trubel wieder verlassen kann.
Krefeld, Uerdingen, Duisburg, wir sind im Ruhrgebiet. Nicht nur mittendrin, sondern sozusagen im Hinterhof. Fast immer, wenn man sich auf einem Fluss einer Stadt nähert oder auf dem Fluss in die Stadt hineinfährt, kommt man dort vorbei, wo Touristen eher nicht hingeführt werden. Eben nicht dorthin, wo die Prachtstraßen und Boulevards die Blicke hinlenken wollen. Nicht zu Protz und Reichtum, sondern dorthin, wo das eigentliche Leben spielt. Ungeschminkt, echt, nicht immer schön anzusehen, aber – wie ich finde – auf jeden Fall sehenswert. Wie schon in Mannheim und Ludwigshafen oder vor wenigen Tagen in Leverkusen faszinieren mich auch hier wieder die Hafenanlagen und Industriegebäude. Alte Gebäude, zum Teil Industrieruinen, sind eng verzahnt mit hochmodernen, technischen Anlagen, Graffitis zieren oder verunstalten fast jedes Mauerwerk. Dazwischen Schrott und Autowracks. Und plötzlich ein eingezäunter Bolzplatz. Am Ufer liegt ein kaputtes Fahrrad, daneben steht ein einsamer Angler. Dahinter ist die neu angelegte Uferpromenade, auf der Kinder Fahrrad fahren. Ein junges Pärchen geht Hand in Hand und auf der alten Kaimauer lungern Jungs in Jeans- und Lederjacken. Zigaretten rauchend und mit Bierdosen in der Hand. Dann wieder Beton, Glas und schlecht verputzte Steinfassaden, Rohrsysteme und Leitungen. Kaum was Grünes. Unweigerlich bleibt deshalb der Blick an der alten Birke hängen, die sich zwischen all dem Asphalt und Mauerwerk hindurch zwingt. Es ist Mitte April. Ihr zartes, noch unverbrauchtes und frisches Grün leuchtet geradezu in all dem vielen Grau und Braun. Hier wird jedem klar, warum Grün die Farbe der Hoffnung ist.
Ab Duisburg geht es auf die Kanäle
Mitten in Duisburg, bei Rheinkilometer 780, müssen wir den Rhein verlassen. Drei Wasserwege führen hier von rechts in den Rhein hinein, zwei Kanäle und die Ruhr. Wir entnehmen es aus der Karte, dass die erste Einmündung die Ruhr sein soll. Sie unterscheidet sich weder vom Hafenmund, dem Zugang zu Nord- und Südhafen, noch vom Hafenkanal, der in drei weitere große Hafenbecken und in den Rhein-Herne-Kanal führt. Ob Fluss oder Kanal, alles scheint gleich gebaut bzw. verbaut. Beton und rostige Spundwände, gesäumt von Pollern, an denen zum Teil Frachter, Schlepper oder Sandbagger festgemacht haben. Der Duisburger Hafen ist mit über 20 Hafenbecken und einer gesamten Wasserfläche von ca. 180 ha der größte Binnenhafen Europas.
Zusammen mit einem Frachter passieren wir die Schleuse Meiderich und fahren in den Rhein-Herne-Kanal ein. Jetzt beginnt die Kanalfahrt quer durch Deutschland. Von Duisburg bis Lübeck liegen nun 460 Kilometer vor uns
Im Rhein-Herne-Kanal legen wir an der rostigen Spundwand des alten Hafenbeckens „Hugo“ hinter der Schleuse Gelsenkirchen an. Der Hafen wird schon lange nicht mehr zum Be- oder Entladen von Frachtern benutzt. Überall Rost und Verfall. Dort, wo der Oxidationsvorgang schon große Löcher in die Spundwand genagt hat, wachsen Büsche und kleine Bäume. Unsere Leinen halten trotzdem sicher an den alten Pollern und die rostige Eisenleiter an der Kaimauer trägt noch unser Gewicht, als wir nach oben klettern. Das Hafenbecken ist von einem alten Bauzaun umgeben, der dort, wo er nicht von durchgewachsenen Büschen und Bäumen gestützt wird, umgedrückt wurde, so dass schmale Trampelpfade durch den Zaun und durch den verwilderten Grünstreifen führen. Überall Müll: Bierdosen, Bierflaschen, Zigarettenkippen und Tüten von bekannten Fast-Food-Ketten. Irgendwo hinter dem Zaun führt eine Straße entlang, an die eine große Industriebrache mit Bauschutt, Goldrutenfeldern, Weidenbüschen und kleine Birken anschließt. Weiter hinten sehen wir die mächtigen Fördertürme der Kohlezechen und und unweit davon entstehen neue Industrieanlagen neben Naherholungsgebieten. Der Ruhrpott unterliegt seit Jahren einem dramatischen Wandel.
Erstaunlich, wie abrupt es hinter Herne ländlich wird. Gerade waren wir noch mitten im Ruhrpott und jetzt sind rechts und links des Kanals Wälder, Wiesen, Felder, Bauernhöfe und kleine Dörfer. Bei Henrichenburg mündet der Rhein-Herne-Kanal in den Dortmund-Ems-Kanal. Wer sich für die Geschichte des deutschen Kanalbaus und der alten und modernen Hebewerk-Technik interessiert, ist in Henrichenburg richtig. Das alte Hebewerk, Ende des vorletzten Jahrhunderts gebaut, hob hier die Frachtschiffe mit Längen bis über 60 Meter und einer Traglast bis 750 Tonnen um 13,5 Meter. Was damals groß und beeindruckend war, wurde über die Jahre freilich viel zu klein. Das neue Hebewerk, 1962 in Betrieb genommen, hat 90 Meter Länge, 12 Meter breite und kann Schiffe bis zu 1250 Tonnen heben. Nicht genug. Von 1985 bis 1989 wurde noch eine Schleuse dazu gebaut, die Schubverbände bis zu 185 Metern Länge und einer Tragfähigkeit von 4000 Tonnen aufnehmen kann. Das alte Hebewerk ist heute ein sehr informatives, sehenswertes Museum und der gesamte Schleusenpark kann besichtigt werden.
Drei Kilometer später wird es schon wieder spannend, von rechts mündet der Datteln-Hamm-Kanal in den Dortmund-Ems-Kanal und bald darauf zweigt der Wesel-Datteln-Kanal nach links, also nach Norden ab. Wir sind im Kanalkreuz Datteln, dem größten Kanalknotenpunkt der Welt! Das Kanalbecken weitet sich hier zu mehreren 100 Metern. Kein Wunder, dass diese Wasserfläche auch das Dattelner Meer genannt wird. Kaimauern, Frachtschiffe, Bunkerstadtionen, Wasserpolizei und Hafenanlagen prägen das Bild. Unsere Colette mittendrin.
Wir bleiben im Dortmund-Ems-Kanal. 88 Kilometer „Talfahrt“ mit fünf Schleusen. Direkt hinter Datteln überquert der Kanal auf Brücken die Flüsse Lippe und Stever. Dann wird es wieder ländlich. Wir passieren Lüdinghausen, Senden, Hiltrup, Münster, Bergeshövede. Hier biegen wir in den Mittellandkanal ein.
233 Kilometer Mittellandkanal liegen nun vor uns. Von Bergeshövede bis Calberlah. Laut Karte sind wir auf „Bergfahrt“. Davon merken wir aber nichts. Die 233 Kilometer scheinen eben zu sein. Kein Hebewerk, keine Schleuse. Ebenes, ländliches Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Ausgedehnte Felder, Wiesen und Pferdeweiden, Hecken, kleine Wälder, große Bauernhöfe. Ländliche Idylle pur. Langweilig, mögen jetzt manche sagen. Lukas, der bei uns die Jugend vertritt, gehört dazu. Aber er kann sich auch unserer Meinung anschließen: gemütlich. Wir entdecken wieder, wie auf den französischen Kanälen vor zwei Jahren, die Langsamkeit. Wir laufen mit fünf Knoten, also knapp 10 Kilometern in der Stunde, müssen nicht schleusen, nur Frachtern ausweichen, legen Pausen ein, wo es uns gefällt und zählen die Kilometerangaben unter den Brücken, die in fast regelmäßigen Abständen den Mittelkanal überspannen. Auch mit dem Wetter haben wir Glück. Seit St. Goar scheint die Sonne und die Temperaturen sind mittags um die 20 Grad.
Also alles perfekt? Nicht ganz. Seit Duisburg macht uns der Motor etwas Sorgen. Morgens, im kalten Zustand qualmt der Auspuff beim Starten zunehmend weiß und blau und es riecht nach verbranntem Öl. Abends wische ich verstärkt Öltropfen unter dem Motor auf und mittlerweile füllen wir täglich einen Viertelliter Motorenöl nach. Wir telefonieren mal wieder mit Peter, der uns fürs erste beruhigt:
„Ein alter Motor, der durch lange Kanal- und Flussfahrten so viele Betriebsstunden auf dem Buckel hat, darf schon mal etwas Öl verbrauchen. Schließlich läuft er ja gerade täglich viele Stunden. Solange er bei gleichbleibender Drehzahl ruhig und rund läuft, sollte alles in Ordnung sein. Aber achtet darauf, dass er nicht zu heiß wird. Nie über 90 Grad!“
Peter empfiehlt uns noch einen Ölzusatz, der die Motorabdichtung verbessern soll. In Minden finden wir eine Tankstelle und besorgen uns das Mittel. Tatsächlich geht in den nächsten Tagen der Ölverbrauch etwas zurück. Dafür stellt sich ein neues Problem ein: Ohne erklärlichen Grund kann es sein, dass der Motor erst nach mehrmaligen Startversuchen anspringt. Dabei scheint der Ladezustand der Batterie zu stimmen und auch für den Glühvorgang ist genügend Strom da. Aber für den Zündvorgang reicht es dann nicht mehr aus. Ob die Starterbatterie bei unserem Defekt der Lichtmaschine bei St. Goar doch einen Schaden davon getragen hat? Wir wissen es nicht. Denn selbst wenn der Batteriewahlschalter auf „both“ steht, also Starter- und Verbraucherbatterien gleichermaßen zum Starten genutzt werden, kann es sein, dass der Startvorgang nicht klappt. Und beim nächsten Mal starten wir dann wieder ohne Probleme ausschließlich mit der Starterbatterie.
„Kann ich aus der Ferne nichts dazu sagen. Weiter fahren und weiter beobachten“, ist Peters Kommentar. Was anderes bleibt uns ja auch nicht übrig.
Bei Calberlah verlassen wir den Mittellandkanal und fahren in den Elbeseitenkanal ein. Jetzt beginnt tatsächlich ein eher langweiliger Abschnitt unserer Reise. Der „Heide-Sues“, wie er gerne genannt wird, durchzieht etwas erhöht als Dammkanal und zum Teil schnurgerade die flache Landschaft der Lüneburger Heide. Er wurde von 1968 bis 1976 gebaut, um den Seehafen Hamburg mit dem westdeutschen Binnenschiffernetz zu verbinden. Ein sehr funktionaler, technischer Kanal mit über 50 Meter Breite, der allerdings nur für eine Breite von 35 Metern 2,8 Meter Wassertiefe garantiert. Entsprechend vorsichtig müssen wir sein, dass wir, wenn uns große Frachtschiffe begegnen, nicht zu weit an das Ufer fahren. Die 60 Meter Höhenunterschied vom Mittellandkanal hinunter zur Elbe werden von einer mächtigen Schleuse bei Uelzen (Hubhöhe 23 Meter) und dem Schiffshebewerk Lüneburg in Scharnebeck (Hubhöhe 38 Meter) bewältigt.
Mit dem letzten Licht erreichen wir die Elbe und drei Kilometer elbaufwärts Lauenburg. In der freundlichen Marina unterhalb der Schleuse zum Elbe-Lübeck-Kanal bleiben wir über Nacht. Die Altstadt von Lauenburg unten an der Elbe ist hübsch hergerichtet und die Läden und Kneipen erzählen vom Leben mit dem Fluss. Die Elbschifffahrt hat die Stadt geprägt und noch heute sind hier Werften und Reedereien ansässig. Wir schlendern durch die nächtlichen Gassen und irgendwann treibt uns die Frühlingskühle in eine der Kneipen. Es gibt Bratkartoffeln, Matjeshering und Bier. Köstlich.
Geschafft!
Von Lauenburg bis Lübeck liegen jetzt noch knapp 62 Kilometer vor uns. Unsere Aufregung steigt mit jedem Kanalkilometer und mit jeder der sieben Schleusen, die wir hinter uns bringen. Es sind gemütliche, keine Schleusen, die uns sehr an die französischen Kanäle erinnern. Kein Wunder, stammt doch der Elbe-Lübeck-Kanal aus der gleichen Kanalbau-Ära. Er wurde um 1900 gebaut und führt flussgleich durch eine wunderschöne, sehr ländliche Landschaft. Wir genießen wieder die Langsamkeit; wobei, nach jede Biegung des Kanals nehmen wir zuerst die Karte dann das Fernglas zur Hand: jetzt müssten doch endlich die Kirchtürme Lübecks zu sehen sein.
Endlich. Ob es die Türme des Doms, der St. Petrikirche oder der St. Marienkirche sind, wissen wir noch nicht. Noch ist uns Lübeck unbekannt aber wir freuen uns auf auf die altehrwürdige Hansestadt, die eine der schönsten Norddeutschlands sein soll. Im Augenblick interessiert uns mehr, welchen der drei Kanäle wir nehmen müssen, um auf die nördliche Seite Lübecks zur Teerhofinsel zu gelangen. Eine Motoryacht überholt uns und verlangsamt seine Fahrt auf unserer Höhe.
„Wollt ihr weiter in Richtung Travemünde?“, fragt uns der Skipper der Motoryacht.
„Ja, zur Teerhofinsel.“
„Alles klar. Folgt uns. Wir haben den gleichen Weg.“
„Super! Danke!“
Laut Karte fahren wir die Kanaltrave „Weg A“. Vor der Eisenbahnbrücke und der Burgtorbrücke müssen wir kurz warten. „Unser Lotse“ meldet uns über Funk an und bald danach werden bei Brücken angehoben. Der Weg in die Trave ist frei und wir verlassen den Gültigkeitsbereich der Binnenschifffahrt. Ab hier gelten die Bestimmungen der Seeschifffahrt.
Unser Lotse fährt nach Travemünde weiter. Auch wir würden unserer Colette gerne so schnell wie möglich die Ostsee zeigen. Aber natürlich mit stehendem Mast und unter Segel. Das braucht noch etwas Vorbereitung. Für´s erste sind wir hier am Ziel!
Als wir von der Trave in den Seitenkanal zur Teerhofinsel abbiegen, sehen wir an der Kaimauer der Trave-Montage-Werft Charles und Sönke. Morgen werde ich Besatzungswechsel haben. Friederike und Lukas müssen zurück, da Lukas wieder in die Schule muss. Charles und Sönke bleiben und helfen beim Maststellen.
Freundlich lachend winken uns die beiden Freunde zu und zeigen uns den Weg zu unserer Box. Hier werden wir also unsere nächste Heimat haben. Hier werden wir Colette und uns für die Fahrten auf der Ostsee und fernere Ziele vorbereiten und fit machen.
Gekonnt fährt Lukas in die Box. Als ob er schon hundertmal hier angelegt hätte. Friederike und ich werfen Charles und Sönke die Leinen zu.
„Leinen fest, Motor aus!“
940 Kilometer Fluß- und Kanalfahrt liegen hinter uns. 104 Motorstunden hat der alte Peugeot durchgehalten, 13 reine Fahrtage waren wir unterwegs. An kalten Spätwintertagen sind wir aufgebrochen, haben Deutschland vom Schwarzwald über das Ruhrgebiet und die norddeutsche Tiefebene durchfahren und dabei den Frühling begleitet, wie er Tag für Tag vom Süden kommend weiter in den Norden vorgerückt ist. Wir sind in Lübeck. Das Tor zur Welt steht uns nun offen. Ich bilde mir ein, das Meer schon riechen zu können und ich bin mir sicher, dass Colette es kaum erwarten kann, bis wir ihren Mast stellen und sie endlich hinaus in das Salzwasser fahren darf. Jedenfalls schwankt ihr Bug freudig bei jeder kleinen Welle, den die Ostsee in die Trave schickt. Und als sich die erste große Finnland-Fähre langsam hinter unserem Anlegeplatz in Richtung Lübeck vorbeischiebt, nimmt ihr Stahlrumpf zufrieden das tiefe Wummern der großen Dieselmotoren der Fähre auf…
Am Abend kommt noch Wolfram, auch ein guter Freund und Arbeitskollege an Bord. Er macht gerade Urlaub an der Ostseeküste und lässt es sich nicht nehmen, uns in Lübeck zu besuchen. Zu sechst wird es eng im Cockpit, aber das macht uns nichts. Es gibt viel zu erzählen, lachen, trinken und essen!






































